Alte Scherben an digitalen Kameras: 2/85 mm JUPITER-9
Ich erinnere mich, dass ich früher keine besonders hohe Meinung hatte von den vermeintlich minderwertigen Fotoprodukten aus der DDR, der Ukraine und Russland. Das hat sich längst geändert und heute bin ich froh, Objektivschätze wie das JUPITER-9 zu besitzen und seine einzigartige Charakteristik für meine Bilder zu nutzen. Was man mit dem russischen 85er machen kann, seht und lest ihr im folgenden Bericht.
Oben: Auch und gerade im Nahbereich ermöglicht das JUPITER-9 einen selektiven, gut zu kontrollierenden Einsatz von Detailschärfe, der durch das weich fließende Bokeh im Hintergrund zusätzliche Prägnanz bekommt.
Historische Einordnung des JUPITER-9
Das JUPITER-9 ist ein in Russland hergestelltes Teleobjektiv mit Lichtstärke 2,0 und einer Brennweite von 85 mm. Technisch geht es auf das ZEISS Sonnar aus den 1930er Jahren zurück. Es gehört zu den Objektivtypen, die nach 1945 mit Originalplänen auf ZEISS-Maschinen gefertigt wurden, die man im Rahmen der Reparationsleistungen in Jena abgebaut und ins russische Krasnogorsk transportiert hatte. Das JUPITER-9 wurde in der Folge vor allem für Kameras mit LEICA-Schraubgewinde M39, in einer weiteren Produktionsstätte in der Ukraine für Kameras mit CONTAX/KIEV-Bajonett, und ab den 1960er Jahren auch für Spiegelreflexkameras mit M42 Gewinde produziert. Zu den Letztgenannten gehört auch mein Exemplar, das ich bei einem deutschen Online-Händler in gutem Zustand für rund 170 € erworben habe. Man hört häufig, dass die ersten beiden Ziffern der Seriennummer das Produktionsjahr angeben sollen. Wenn das so zutrifft, stammt das mir vorliegende JUPITER-9 aus dem Jahr 1981 und gehört zu der vorletzten, noch nicht mehrfach vergüteten Version, die Anfang der 1980er Jahre in den LZOS (Optische Glaswerke Lytkarino, Nähe Moskau) gebaut wurde.
Oben: Das 2/85 mm JUPITER-9 mit M42-Anschluss in der Entwicklungsstufe der beginnenden 1980er Jahre. Der Fokussierring ist mit gut zu bedienenden Griffmulden versehen. Die Ausformung der beiden Blendenringe hätte dagegen etwas plastischer sein können. Der obere Ring ist mit den Blendenzahlen beschriftet und dient der Blendenvorwahl. Mit dem darunterliegenden Ring kann man bis zur vorgewählten Blende stufenlos ab- und wieder aufblenden.
Der erste Eindruck
Das JUPITER-9 bringt 355 g auf die Waage, ist für seine hohe Lichtstärke erstaunlich kompakt mit einem Filtergewinde von nur 49 mm Durchmesser und vermittelt einen sehr gut und stabil verarbeiteten Eindruck. Der optische Aufbau besteht aus 7 Linsen in 3 Gruppen. Die Linsen lassen keinerlei Vergütung erkennen. Der aufwändig konstruierte Blendenkörper hat 15 abgerundete Lamellen, die in jeder Abblendstufe eine fast kreisrunde Blendenöffnung bilden. Ich empfinde das im Vergleich zu den meisten modernen Objektiven als großen Vorteil und als feinmechanisches Highlight. Unscharfe Lichtpunkte werden damit in fast perfekter Kreisform abgebildet und nicht als unnatürliche Fünf-, Sechs- oder Achtecke. Die Bedienung der Blende erfolgt über zwei geriffelte Einstellringe. Der vordere Ring dient zur Vorwahl der Blende und ist von 2 bis 16 in vollen Stufen gerastet. Mit dem dahinterliegenden Ring, der für eine bequeme Betätigung etwas zu schmal und zu flach geraten ist, öffnet man die Blende bzw. schließt sie stufenlos bis zum vorgewählten Wert. Das ist zwar ungewöhnlich, eröffnet beim Fotografieren aber je nach Wunsch unterschiedliche Vorgehensweisen. So kann man mit gerasteter Blende arbeiten und den zweiten Ring zum schnellen Auf- und Abblenden beim Fokussieren einsetzen. Alternativ ist es möglich, die Blende auf dem höchsten Wert zu fixieren und mit dem zweiten Ring stufenlos zu arbeiten, während man das Ergebnis im Kamerasucher beobachtet. Der Fokussierring läuft weich gelagert und ermöglicht durch seinen langen Drehweg von einer 3/4-Umdrehung eine nicht ganz so zügige, aber sehr präzise Scharfstellung im Bereich von 0,8 m bis Unendlich. Dass ein exaktes Einstellen insbesondere bei offener Blende angeraten ist, verrät schon der Blick auf die schmale Schärfentiefeskala.
Oben: Blick durch den rückwärtigen Linsenverbund auf die 15 abgerundeten Lamellen des Blendenkörpers, die in jeder Abblendstufe eine perfekte gerundete Öffnung bilden.
Oben: Regentropfen am Fenster im Licht der Abendsonne. Die Unscharfstellung erzeugt das sogenannte Bubble Bokeh. Unscharfe Licht- oder Reflexpunkte werden dabei als kreisrunde Unschärfekreise wiedergegeben. Dank der runden Blendenöffnung des JUPITER-9 ist das auch beim Abblenden so und die besondere Qualität des 7-Linsers zeigt sich darin, dass die Bubbles zu den Bildrändern hin nicht zu um die Bildmitte strudelnden Ovalen werden.
Oben: Das JUPITER-9 mit dem KIWI-Adapter M42-NZ, der den Anschluss an die NIKON möglich macht. Der Adapter hat einen drehbaren Gewindeeinsatz, den man nach Lösen von drei Inbusschrauben an den Einschraubweg des Objektivs anpassen kann, damit die Schärfentiefeskala am Ende nach oben zeigt. Vorn habe ich einen UV-Filter und eine zylindrische Gegenlichtblende (Tiefe 4 cm) aus dem Zubehörhandel angesetzt, mit denen ich je nach Bedarf das Streulichtverhalten des Objektivs zusätzlich steuern kann. Länger als 4 cm sollte die Gegenlichtblende nicht sein, da sie sonst zu Vignettierung führt. Ob es von Herstellerseite je eine Originalblende zum JUPITER-9 gegeben hat, ist mir nicht bekannt. Ich habe das noch nicht angeboten gesehen.
Beispiele zur Bildwirkung des JUPITER-9
Bleiben wir zunächst bei den oben erwähnten Unschärfekreisen. Diese sogenannten "Bubbles" sind beim JUPITER-9 tatsächlich über den gesamten Bildkreis gleichmäßig rund. Sie unterscheiden sich damit deutlich von dem "Swirl" aus rundlichen Formen, die zu den Bildrändern immer ovaler werden und um die Bildmitte zu strudeln scheinen, wie man es oft bei Trioplan, Triotar und anderen Dreilinsern aus dieser Zeit sieht. Der 7-linsige Aufbau des JUPITER-9 bringt damit vor allem Ruhe ins Bokeh, während Größe und Transparenz der "Bubbles" mit der Blendenöffnung variabel gesteuert werden können. Das wirkt sich besonders bei Nahaufnahmen aus, wenn es trotz der geringen Schärfentiefe gelingt, das Hauptmotiv vor dem weich fließenden Hintergrund knackig scharf freizustellen.
Oben: Seine selektive Bildschärfe, gepaart mit dem weichen Bokeh und der Neigung zur sphärischen Wiedergabe von Gegenlicht machen für mich den Reiz des JUPITER-9 aus.
Oben: Mit dem JUPITER-9 sind geradezu malerische, aquarellartige Bildwirkungen mit einem dezenten, kontrollierten Spiel von Schärfe und Weichheit möglich.
Bei geöffneter Blende zeichnet das JUPITER-9 über das gesamte Bildfeld sehr weich. Mangels vergüteter Linsen neigt das Objektiv in Gegenlichtsituationen zu Überstrahlungen und Kontrastarmut, so dass Bildergebnisse in Standardsituationen und bei trübem Wetter zunächst ziemlich unspannend aussehen können. Beginnt man sich diese Bildeffekte zunutze zu machen und unter ständiger Kontrolle des Sucherbildes mit leichten Veränderungen des Aufnahmewinkels, der Fokussierung und der Blendeneinstellung zu spielen, erschließt sich jedoch eine faszinierende Welt von gestalterischen Möglichkeiten mit sehr unterschiedlichen Bildergebnissen. Diese werden umso interessanter, je mehr man Lichtreflexe, sphärische Überstrahlungen, Blendenflecke u.Ä. bewusst in die Bildgestaltung einbezieht. Ich muss zugeben, dass gerade die spiegellose Digitalkamera dies mit ihrem gleichbleibend hellen "wysiwyg"-Sucherbild zum echten Vergnügen macht. Mit einer DSLR ist das wegen des dunkler werdenden Suchers beim Abblenden nur eingeschränkt möglich und mit einer Messsucherkamera ohne Liveview wird das Ergebnis vollends zum Blindflug, weil der Sucher nicht die Effekte wiedergibt, die das Objektiv auf dem Sensor abbildet.
Oben: Knackige Details im Vordergrund und nahezu flächige Weichheit im Hintergrund. Das JUPITER-9 schafft überraschende, grafisch wirkende Freistelleffekte.
Ich sehe das JUPITER-9 als Antipol und perfekte Ergänzung zu meinem 2,8 / 90 mm Elmarit M. Das super-scharfe LEICA-Objektiv nagelt die Motive geradezu auf den Sensor und empfiehlt sich für dokumentarische, reproduzierbare Bildergebnisse mit präziser Detailwiedergabe und hoher Brillanz. Zum Beispiel bei Portraitaufnahmen wirkt die Schärfe des 2,8ers aber oft auch zu gnadenlos. Ganz anders das JUPITER-9: Das lichtstarke 85er zeigt seine Qualitäten im selektiven Einsatz von Schärfe und Unschärfe mit einer fast malerischen Bildanmutung und der oft überraschenden Wirkung abgebildeter Gegenlichtquellen. Wenn ich etwas fotografieren möchte und die Kamera mit dem russischen Siebenlinser ans Auge nehme, bin ich oft überrascht von dem, was ich im Sucher sehe. Das JUPITER-9 bildet Motive oftmals völlig anders ab als erwartet. Das verleitet mich zum Experimentieren, zum bewussten Gestalten des Bildes mit Lichtquellen, Reflexen und all den Veränderungen, die sich durch Drehen des Blenden- und des Fokussierrings ergeben. Im Hinblick auf den Prozess des Fotografierens bedeutet das für mich eine Art Abschalten vom Jobmodus in den Kreativmodus. Das 85er ist für mich das "Künstlerwerkzeug", das neben all den modernen, perfekten "Arbeitsobjektiven" seinen festen Platz in meinem Kamerakoffer hat.
Oben: Aufnahmen in Richtung Lichtquelle bei offener Blende und Fokussierung auf Unendlich quittiert das JUPITER-9 mit blauen Farbsäumen, extrem weichen Kontrasten und kräftigen Überstrahlungen. 100% Crop, unbearbeitet. Mit Abblenden um ein oder zwei Stufen wird das wesentlich besser, aber ein Standard 85mm Objektiv für Allroundaufgaben ist das JUPITER-9 dennoch eher nicht.
Oben: Besonders im Nahbereich sieht das JUPITER-9 Dinge und grenzt diese bildwirksam vom Umfeld ab, die man vorher gar nicht wahrgenommen hatte.
JUPITER-9: Der Unterschied in der Abbildungsschärfe bei Blende 2 (oben) und Blende 4 (unten) ist enorm.
Copyright 2020 by Klaus Schörner / www.bonnescape.de
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Anke (Sonntag, 14 Juni 2020 14:32)
Ich bin geflasht! Was sind das tolle Fotos. Wo bekomme ich so ein Objektiv am besten für meine Sony. Bei ebay gibt es ja zig Typen. Ich finde das Angebot verwirrend.
Liebe Grüße
Anke
Klaus (admin) (Sonntag, 14 Juni 2020 17:34)
Liebe Anke, vielen Dank. Freut mich, dass dir die Bilder gefallen. Für eine Adaptierung an Sony E/NEX mount bieten sich am ehesten die Jupiter-Varianten mit M39- (Leica) oder M42-Gewinde an. Für beide Typen sind von verschiedenen Herstellern (meist China oder HongKong) in der Bucht Adapter erhältlich. Ich persönlich bevorzuge die Jupiter-Modelle bis zum Beginn der 1980er Jahre (also meines und die älteren silbernen). Die jüngeren Modelle, die in der Bucht heute meist von Händlern aus der Ukraine angeboten werden, habe ich noch nicht ausprobiert. Sie sind aber MC-vergütet (intensiv farbig schimmernde Frontlinsen), was die schönen Reflexe eher mindern dürfte. Zudem haben die nicht alle 15 Blendenlamellen, sondern zum Teil weniger.
VG, Klaus
Klaus (admin) (Mittwoch, 17 März 2021 08:13)
Vor einigen Tagen schrieb mich ein Leser mit der Frage an, wie er ein Jupiter 9 mit CRF-Anschluss (Contax Rangefinder) an seine Canon EOS M adaptieren kann. Daraus hat sich zwischen uns ein email-Austausch ergeben mit einigen Informationen, die vielleicht auch für andere Leser von Interesse sind:
Meines Wissens gibt es von KIPON einen "CRF-EOS M" Adapter. Ich kenne allerdings keinen deutschen Händler, der den hat, so dass man den wohl nur online aus Fernost ordern kann. Ob der Adapter etwas taugt und wie das mit dem Auflagemaß aussieht, weiß ich nicht, aber KIPON macht in der Regel gute Adapter.
Alternativ kann man versuchen, mit zwei Adaptern zu arbeiten. Man kann zum Beispiel Objektive mit Contax RF Anschluss an Leica M adaptieren und dann mit einem weiteren Adapter Leica M an EOS M anschließen. Aber auch dabei kann ich zum Auflagemaß nichts sagen, da ich hier nichts mit CRF oder EOS M habe.
Ich würde aber empfehlen, die Kosten im Blick zu halten. Objektive mit CRF-Anschluss sind zwar relativ einfach zu bekommen und billiger als M39 oder M42-Varianten. Das hat aber seinen Grund. Wenn man adaptieren möchte, hat man mit Schraubgewinde mehr und einfachere Möglichkeiten. Die meisten Adapter, die von CRF irgendwo hinführen, sind Exoten und können ins Geld gehen. Man muss bedenken, dass man auch ein gut erhaltenes Jupiter 9 mit M42-Schraubanschluss für wenig mehr als 150 Euro bekommt. Und M42 kann man mit geringen Kosten an alle spiegellosen Systeme adaptieren.
Daher empfehle ich denjenigen, die sich ein Jupiter anschaffen möchten, am besten nach M42 Versionen zu schauen, auch wenn diese auf den ersten Blick etwas teurer sind als die Contax-Varianten.
Klaus (admin) (Mittwoch, 17 März 2021 08:59)
Im Verlauf der emails ging es auch um das Thema Radioaktivität von Jupiter 9 Objektiven. In den 1940er bis 70er Jahren setzten Hersteller weltweit bei bestimmten Objektiven sogenanntes Thoriumglas ein. Das war ziemlich weit verbreitet, in der Liste der betreffenden Objektive finden sich fast alle namhaften Marken. Siehe dazu auch hier: https://camerapedia.fandom.com/wiki/Radioactive_lenses
Gläser mit Thoriumoxid-Bestandteilen hatten vorteilhafte optische Eigenschaften, aber auch den Nachteil, dass sie nach und nach gelblich wurden. Außerdem sind sie schwach radioaktiv, was bei bestimmungsgemäßer Verwendung für den Fotografen, der mit so einem Objektiv arbeitet, gesundheitlich unbedenklich sein soll.
Ob unser Jupiter 9 betroffen ist, ist mir bislang nicht bekannt. In den diversen, im Internet veröffentlichten Listen, habe ich das Jupiter 9 bisher nicht finden können, und die Linsen meiner beiden Exemplare (ja, inzwischen sind es schon zwei :-)) haben auch keine Gelbtönung.