Das fast vergessene 127er Filmformat
Ich blicke auf einen Karton voller entwickelter Filmrollen aus dem Nachlass meiner Eltern. Bröselige rote Gummibandreste halten die Rollen zusammen. Neben etlichen Kleinbildfilmen sind es vor allem Schwarzweiß-Rollfilme in einem Filmformat, das früher unter der Bezeichnung 127 weit verbreitet war. Die Filme beherbergen 4,2 x 5,7 cm große Mittelformatbilder, die ich mit bloßem Auge gut erkennen und auf die 1950er Jahre datieren kann. Ich glaube auch zu wissen, mit welcher Kamera zumindest einige von ihnen belichtet wurden, denn die alte Kamera meiner Mutter, eine Bilora Bella, passt zu diesem Negativformat und hat schon vor 40 Jahren den Sprung in meine Kamerasammlung geschafft.
Universelles Filmformat für die Hobby-Fotografie
Aber kommen wir zurück zum Film 127. Bekannt wurde er auch unter dem Namen "Vest Pocket Film" oder schlicht "VP", da sich die erste Kamera für dieses Format "westentaschentauglich" zusammenfalten ließ. Der Film hat eine Breite von 4,5 cm und ist 65 cm lang. Er ist zusammen mit einem lichtschützenden Rückpapier auf eine Spule aus Metall oder Plastik aufgewickelt. Die Zahlenreihen auf dem Rückpapier ermöglichen auch bei Kameras ohne automatischen Bildschritt verschiedene Aufnahmeformate (siehe Tabelle unten). Die Position der richtigen Zahlenreihe muss zu der Position des roten oder grünen Fensters in der Kamerarückwand passen, damit die vorgesehene Anzahl von Bildern ohne Überlappungen auf den Film passt. Man dreht jeweils den Knopf für den Filmtransport so lange weiter, bis die nächste Bildnummer im Fenster erscheint.
Format |
Bilder/Rolle |
Beispiele typischer Kameras |
ca. 4,2 x 6,6 cm |
8 |
z.B. Exakta A/B/VP/Jr., Bilora Boy, Brownie 127, Baby Brownie, Kodak Bullet, Vest Pocket Kodak |
ca. 4,2 x 5,7 cm |
8 |
z.B. Bilora Bella, Genos |
ca. 4 x 4 cm |
12 |
z.B. Baby-Rolleiflex, Yashica 44, Braun Paxina |
ca. 4 x 3 cm |
16 |
z.B. Certo Dolly, Zeiss Ikon Kolibri, Nagel Pupille |
3,2 x 3,1 cm |
16 |
Purma Plus, Purma Special, Purma Speed |
Historisch reicht das kleine Rollfilmformat zurück bis 1912 und wurde seinerzeit von Kodak zunächst für die faltbare Vest Pocket Camera hergestellt. Das Format lieferte ausreichende Negativgröße für einigermaßen feinkörnige Bilder, war groß genug für erkennbare Kontaktprints und paarte Handlichkeit und geringes Kameragewicht mit Sparpotential. So brachte man auf weniger Filmfläche mindestens genau so viele quadratische Aufnahmen unter wie die 6x6-Kameras auf den größeren 120er Rollfilmen. Der Erfolg dieses Sparformats ging damals einher mit den Bemühungen, Fotografieren erschwinglicher zu machen. Vermutlich wollte man neue, größere Zielgruppen erschließen und sich nicht mehr nur auf professionelle oder elitäre Kreise beschränken. Während des ersten Weltkriegs wurde die Vest Pocket Kodak sogar ausdrücklich als Soldatenkamera vermarktet und hat dazu beigetragen, dass uns aus dieser Zeit mehr fotografische Dokumente vorliegen als zu Zeiten ausschließlich professioneller Berichterstattung. Allerdings gelangten damals Amateurfotos von der Front nur selten in die Medien, da Zensurbehörden* darüber wachten, dass diese der Propagandastrategie nicht zuwiderliefen.
* In Deutschland ab 1917 das Bild- und Filmamt BUFA.
Oben: Entwickelte 127er Filmstreifen mit Beispielen unterschiedlicher Formatausnutzung:
1) Bilora Bella auf Shanghai Gold 200, 8 Bilder á 4,2 x 5,7 cm. Der Shanghai ist der einzige 127er Film im Testfeld, der eine Randnummerierung aufweist. Die
Bildabstände sind größer als bei 3) und 4), weil die Bilder der Bella etwas kleiner sind.
2) Yashica 44A auf Reflx Lab Pro 100, 12 Bilder á 4,0 x 4,0 cm.
3) Bilora Boy auf HP 400, 8 Bilder á ca. 4,2 x 6,6 cm. Die halbrunde Bildbühne verursacht ungerade Außenkanten.
4) Baby Brownie mit Rera 100, 8 Bilder á ca. 4,2 x 6,6 cm. Auch hier ungerade Außenkanten. Außerdem offensichtlich ein erhebliches Lichtleck bei der Bakelitkamera.
5) Purma Special mit Rera 400, 16 Bilder á 3,2 x 3,1 cm. Hier
gibt es ebenfalls einen unerwünschten Lichteinfall, der aber die Bilder nicht erreicht, da diese den Film nicht bis zum Rand ausnutzen. Besonderheit der Purma sind abwechselnde schmale und breite
Bildabstände. Diese hängen mit dem Abstand der beiden roten Bildnummerierungsfenster zusammen. Jede der 8 Bildnummern erscheint zunächst im ersten und für die
Folgeaufnahme danach im zweiten Fenster.
Oben: Knapp 4 x 6,5 cm großer Kontaktprint von der Westfront, ca. 1916, aus dem Fotoalbum meines Urgroßvaters.
Oben: Rückwand der Purma Special mit den beiden Fenstern für die Bildnummerierung.
Der 127er Vest Pocket Film erfreute sich bis in die 1960er Jahre hinein großer Beliebtheit und wurde von Kameras wie den Spielarten der Exakta 4x6,5 cm, der Baby Rolleiflex, der Yashica 44 sowie zahllosen, einfach zu bedienenden Bakelit- und Boxkameras wie den Brownies verwendet. Zeitweise gab es sogar Farbdiamaterialien im 127er Format. Die sogenannten "4x4 Superslides" präsentierten 38x38 mm große Diapositive in einem schmalen Rahmen, der außen der gängigen Größe von Kleinbild-Diarahmen entsprach. Superslides konnten mit vielen Kleinbild-Diaprojektoren projiziert werden und brachten mehr Brillanz, bessere Feinkörnigkeit und eine effizientere Flächenausnutzung auf die zumeist quadratischen Projektionsleinwände.
Die 127er verschwinden vom Markt
Spätestens in den 1970er Jahren nahm das Interesse an Kameras des Formats 127 ab. Die Filmemulsionen waren empfindlicher und feinkörniger geworden und der Markt orientierte sich nun an schnellen, handlichen Kleinbildkameras. Für die verbliebenen Nutzer von VP-kompatiblen Kameras produzierte Kodak 127er Filme noch bis Mitte der 1990er Jahre. Danach blieb nur noch Fotokemika Efke in Kroatien als letzter verbliebener Hersteller von Schwarzweiss-Filmen dieses Formats. Nach der Schließung von Efke im Jahr 2012 gab es nur noch die Möglichkeit, 127er Filme umständlich und materialintensiv aus den größeren Rollfilmen selbst zu schneiden. Aufgrund der anders positionierten Nummerierung auf dem Trägerpapier war es aber kaum möglich, selbst geschnittene Filme in den einfacheren Kameramodellen ohne Transportautomatik einzusetzen. Und so wurde es still um Baby Rolleiflex, Exakta VP, Brownie & Co.
Oben: Rund 70 Jahre alt – eine Schachtel mit 127er Filmen aus dem Nachlass meiner Eltern
Die Rückkehr des Films 127
Wer jetzt aber glaubt, dass damit die Geschichte des Westentaschen-Rollfilms und der vielen Kameras, die ihn verwendeten, endet, wird überrascht: Im Rahmen der Renaissance analoger
Fotografie gibt es heute wieder einen Markt für diese Filme. Im einschlägigen Fachhandel steht eine Auswahl neuer 127er Filme bereit, die von Schwarzweiß-, über Farbnegativ- bis hin zu
Farbdia- und Cross-Materialien reicht. Da es sich um Nischenprodukte handelt, liegen die Preise aber höher als die der größeren Rollfilme und es sind auch nicht immer alle Filmtypen
verfügbar. Das aktuell erhältliche Spektrum* setzt sich meiner Beobachtung nach wie folgt zusammen:
* Alle folgenden Preisangaben Stand Oktober 2024, bei allen Anbietern kommen noch Versandkosten dazu, ggf. auch noch Einfuhrumsatzsteuer und je
nach Bestellwert Zollgebühren.
Rechts: Die Yashica 44A (1959-65) bietet mit ihrer Blendenskala und ihren vier Verschlusszeiten (plus "B") genügend Spielraum für eine präzise Belichtung des Farbfilms. Das 3.5/60 mm Yashikor ist ein scharfzeichnender Dreilinser mit mehrfachvergüteten Linsenelementen. Entwicklung und Scan bei Safelight Berlin.
Beispielaufnahmen (Klick zum Vergrößern)
Rechts: Die Bilora Bella (1955-58) bietet mit ihren zwei Verschlusszeiten (1/100 und 1/50) und zwei Blenden (8 und 11) ein wenig Spielraum für eine korrekte Belichtung des ISO 200 Films. Der 2-linsige 70mm Achromat lässt sich von 1m bis Unendlich fokussieren. Entwicklung und Scan bei Safelight Berlin.
Beispielaufnahmen (Klick zum Vergrößern)
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RERA RG 200 GP3 100 PAN
Farbnegativ-Film 127 ISO 200. Der Film ist (Stand 16.10.24) noch neu im Angebot von www.macodirect.de für stolze 23,80 € p. Stck. Es soll sich ebenfalls um einen in Japan bei Kawauso Shoten umkonfektionierten KODAK GOLD 200 handeln.
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SHANGHAI GP3 100 PAN
Schwarzweiß-Film 127 ISO 100. Ich kenne den Film bisher nur in der Konfektionierung für Kleinbildkameras. Dabei habe ich ihn recht feinkörnig, scharfzeichnend und kontrastreich in Erinnerung. Entwickelt habe ich ihn stets in Rodinal. Verdünnung und Zeit weiß ich nicht mehr, aber Empfehlungen sind z.B. auf www.digitaltruth.com zu finden. Bezugsquelle: Bei etlichen Online-Händlern in Fernost und internationalen Verkaufsplattformen erhältlich, aber für das 127er Format werden meist unverhältnismäßig hohe Preise verlangt.
Rechts: Testkamera war hier eine Kodak Baby Brownie (1934-52) mit 60mm Fixfokus-Meniskus-Linse, Lichtstärke 16. Es steht nur eine Verschlusszeit zur Verfügung (1/50 sek). Das Bild zeigt, dass die Kamera nicht richtig lichtdicht abschliesst. Offenbar gibt es einen Lichteinfall durch das Rückpapier, so dass die Bild-Nr. auf den Film durchscheint.
Beispielaufnahme mit Gelbfilter (Klick zum Vergrößern)
Rechts: Der Rera Pan 400 mit der Purma Special (1937-51). Das Objektiv, ein unvergüteter dreilinsiger 6,3/57mm Fixfokus-Anastigmat, lässt sich nicht abblenden, zeichnet aber ziemlich scharf und kontrastreich. Die Kamera bietet drei Verschlusszeiten (1/50, 1/150, 1/450 Sek.). Bei sonnigem Wetter kann ein aufsteckbarer Gelbfilter zusätzlich helfen, Überbelichtung zu vermeiden.
Beispielaufnahmen mit Gelbfilter (Klick zum Vergrößern)
Rechts: Der HP400 mit der Bilora Boy (Modell 5,
1950-52) mit 60mm Meniskus-Linse und variabler Fokussierung von 1,5 m bis Unendlich. Die Abbildungsschärfe ist im Bildzentrum ganz ordentlich, nimmt aber zu den Bildrändern ab.
Lichtstärke 11, einzige Verschlusszeit ca. 1/50 sek.. Der Film musste also eine gewisse Belichtungsbandbreite verkraften.
Beispielaufnahme (Klick zum Vergrößern)
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RERA CHROME 100
Diapositiv-Film 127 ISO 100. Seltener erhältlich.
Gelistet z.B. bei www.macodirect.de
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ROLLEI CROSSBIRD 127
Spezialfilm mit ISO 200. Je nach Verarbeitung soll der Film Diapositive (E6) oder Farbnegative (C41) mit Farbverschiebungseffekten für einen kreativen Look liefern. Bezugsquelle z.B. www.macodirect.de, www.fotoimpex.de
Im Gegensatz zu den früheren bedruckten Kartonverpackungen mit innenliegender Alu- oder Verbundfolie kommen die meisten der hier vorgestellten 127er Rollfilme in einer lichtdichten schwarzen Kunststoffdose, die von außen mit Aufkleber gebrandet ist. Der SHANGHAI GOLD ist innerhalb der Dose zusätzlich in eine Alufolie eingewickelt. Bei den RERA PAN und HP400 Schwarzweißfilmen wird auf die Innenfolie verzichtet. Der PRO100 kommt ohne Dose in einer bedruckten Kartonverpackung. Diese ist zusätzlich in eine neutrale Alufolie eingeschweisst.
Nicht ganz billig, der Spaß
Die meisten modernen 127er Rollfilme verwenden heute einen Spulenkern aus Kunststoff. Im Vergleich zu den früheren Exemplaren aus verzinktem oder schwarz lackiertem Blech sind diese modernen Dinger weniger haltbar und funktionieren mit den Aufspulsystemen mancher alten Kameras nicht so gut. Lässt man die Filme im Labor entwickeln, kann das zum Problem werden, weil man die Spule, auf die der Film gewickelt wurde, im Regelfall nicht zurückerhält. Im Internet findet man aber Angebote für gebrauchte Blechspulen.
Spulen benötigt man natürlich auch, wenn man 127er Filme aus den größeren 120er Rollfilmen selbst schneiden möchte. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass bei einem italienischen Anbieter auch eine Cutter-Vorrichtung erhältlich ist, mit der die Umkonfektionierung bei Tageslicht ausgeführt werden kann. Ausprobiert habe ich das selbst noch nicht.
Der 127er Film ist zurück und erweckt viele Kameras zum Leben, die jahrzehntelang im Dornröschen-Schlaf lagen. Das ist toll und mir persönlich macht es großen Spaß, diese stylischen, oft genial einfachen Fotoapparate früherer Zeiten in dem Bewusstsein, was sie wohl schon alles gesehen haben, erneut einzusetzen. Billig ist der Spaß allerdings nicht. Da es sich bei den Filmen um Sonderanfertigungen bzw. Umarbeitungen handelt, ist das frühere Sparformat heute teurer als die gängigen größeren Rollfilme, von Kleinbildfilmen ganz zu schweigen. Und so bleibt zu hoffen, dass sich dauerhaft genügend Liebhaber finden, die diese Filme für ihre alten Kameraschätzchen kaufen, so dass die Anbieter auch weiterhin überzeugt sind, dass sich eine Fertigung von 127er Filmen lohnt.
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Nicole Graf (Dienstag, 12 November 2024 11:53)
Cool, dass du mal was über den Film 127 geschrieben hast! Ich bin überrascht, wie viel Auswahl an Filmen es wieder gibt. Von meinem Opa habe ich eine Baby-Rolleiflex. Ich glaube, die krame ich jetzt wieder raus.
Roland (Freitag, 15 November 2024 17:42)
Da sind Filme dabei, von denen ich noch nie gehört habe. :-)
Alte Kameras hätte ich auch noch ein paar.
Ich werde mich mal weiter einlesen. Danke für den Überblick!
mfg, R.
Marcus D (Mittwoch, 20 November 2024 08:23)
Die Ähnlichkeiten sind tatsächlich interessant. Gibt es eine Vermutung wo produziert wird?
Klaus (admin) (Freitag, 22 November 2024 13:15)
@Marcus D: Du fragst wegen der einheitlichen Rückpapiere etc.?
Von Reflx Lab weiss ich, dass sie die Filme mit eigenem Label selbst konfektionieren.
Was die anderen oben vorgestellten 127er Filme anbelangt, kann man nur vermuten, wo die Umarbeitung erfolgt. Jedenfalls ist Shanghai Jiancheng Film als Konfektionierer kein Unbekannter.