Lieblingsbücher: David Plowden - IMPRINTS
Abgelegene Farmen und Kleinstädte, einsame Nebenstraßen, Brücken, Dampflokomotiven, alternde Industrieanlagen. Fast fünfzig Jahre lang hat der Fotograf David Plowden die allmählich schwindenden Überreste der industriellen und ländlichen Vergangenheit Amerikas dokumentiert. Der Bildband "IMPRINTS" ist ein Querschnitt durch sein Oeuvre.
"Imprints - A Retrospective", von David Plowden,
203 S., Hardcover ca. 26 x 29,2 x 1,9 cm, 1997, "A Bulfinch Press Book",
Little, Brown and Co. Inc., ISBN-10: 0821223232, ISBN-13: 978-0821223239
„Ich fühlte mich getrieben von einem Gefühl der Dringlichkeit, jene Teile unseres Erbes aufzuzeichnen, die so schnell zu verschwinden scheinen wie die Aussicht von der Rückseite eines schnell fahrenden Zuges.“ (Übers. a. d. Engl., Quelle: www.davidplowden.com/about)
David Plowden ist Jahrgang 1932. Ausgestattet mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Abschluss der Yale University schlägt er 1955 zunächst eine Laufbahn bei der Great Northern Railway ein, entschließt sich dann aber 1958 dazu, Fotograf zu werden. Es folgen Studien bei Minor White und Nathan Lyons sowie Assistenzen bei dem Eisenbahnfotografen O. Winston Link und dem Werbefotografen George Meluso.
In den 1960er Jahren gilt David Plowdens fotografisches Interesse zunächst den allmählich aussterbenden Dampflokomotiven, die er durchaus mit einem Sinn für Romantik und Dramatik in Szene setzt. Plowden geht nah ran an seine Motive, zeigt bildfüllend Antriebsräder, Dampf, Qualm, Loks im Schneegestöber, unbändige Kraft und schwitzende, verrußte Eisenbahnarbeiter. Man fühlt sich erinnert an die Fotografien eines Lewis Hine. Plowdens Arbeiten sind zunächst jedoch weniger dokumentarisch als journalistischer Natur und geprägt durch die spürbare Begeisterung des Fotografen für seine Sujets. Besonders deutlich wird das in seiner 2010 veröffentlichten, ebenfalls sehr empfehlenswerten Monografie „Requiem for Steam“.
Oben: Das 1974 aufgenommene Bild der Holzkirche von Saline County ist ein typisches Beispiel für David Plowdens bildnerischen Stil bei seinen fotografischen Dokumentationen des ländlichen, kleinstädtischen Amerika. Auf den ersten Blick vermitteln der kurz geschnittene Rasen und der helle Anstrich des Gebäudes den Eindruck einer ländlichen Idylle. Kennzeichnend ist neben der formalen Strenge und der gestalterischen Ruhe aber auch hier der kluge Anschnitt des Gebäudes und die weitläufige Einbeziehung der "leeren" Gras- und Himmelsfläche, die die Kirche verlassen wirken lässt. Dabei verstärkt die winzig kleine Baumgruppe im Hintergrund die Tiefenwirkung des Bildes. Der helle, fast unstrukturierte Himmel wirkt wie ein Studiohintergrund hinter dem präzise rechtwinklig ausgerichteten Gebäude. Die Platzierung auf der Seite mit großzügigem Randbereich vermittelt Ruhe und gibt dem Foto die Wirkung eines Kunstwerks auf weißem Passepartout.
("Church, Saline County, Missouri, 1974", aus David Plowden, "IMPRINTS - A Retrospective", Seite 33)
Ein Langzeitprojekt über nordamerikanische Eisenbahnbrücken, das durch ein Guggenheim-Stipendium gefördert wird, führt ihn ab 1968 mitsamt seiner jungen Familie zu monatelangen Exkursionen quer durch Amerika. Allmählich verändern sich die Motive des Fotografen. Plowden konzentriert sich zunehmend auf Landschafts-, Architektur- und Interieurmotive aus dem ländlichen und kleinstädtischen Amerika und wird diese Themen bis weit in die 1990er Jahre hinein verfolgen. Seine Fotografien werden formal strenger, stiller, dokumentarischer. Man tut der Sachlichkeit seiner Bilder Unrecht, wenn angesichts der gestalterischen Ruhe in den Fotos ein nostalgisches Gefühl von friedlicher "Heile Welt"-Romantik und Erinnerungen an "die guten alten Tage auf dem Lande" aufkommt. David Plowden würde diese Assoziation wahrscheinlich nicht befürworten, aber ein bisschen schwingt das durch die abgebildeten Motive einfach mit. Stilistisch bildet die nahezu unstrukturierte, fast weiß abgebildete Fläche des dunstigen, bedeckten Himmels häufig den neutralen Hintergrund für seine Sujets. Nur noch selten tauchen Personen in seinen Bildern auf. Nichts soll von der reinen Erscheinungsform seiner Objekte ablenken. Das Titelfoto von "IMPRINTS" aus dem Jahre 1971 ist eines der vergleichsweise wenigen Bilder, in dem der Fotograf hartes Sonnenlicht zulässt und den Wolkenhimmel betont. Das Bild zeigt eine Ansammlung von Getreidespeichern an der Northern Pacific Railway in Golden Valley, North Dakota. Die menschenleere Szenerie, die verschlossenen Türen und Fensterläden der Gebäude, das verwitterte Holz der Schienenschwellen und das Gras, das im Hintergrund bereits zwischen den Schwellen herauswächst, schafft eine "abandoned place" Anmutung, die sich in vielen Bildern Plowdens findet. Oft betont der Fotograf dabei die Verlassenheit seiner Szenerien dadurch, dass er die scheinbar leere Fläche, den Asphalt- oder Grasboden, Parkplätze, Schienen, Matsch-, Schnee-, Geröllfläche oder Ackerboden großflächig in seine Bildkompositionen integriert. Seine Interieurfotos von Shops, Werkstätten und billigen Hotelzimmern vermitteln indes eine derart ikonische, rückwärtsgewandte Tristesse, dass es schon fast hyperrealistisch wirkt. Die Zeit scheint hier stehengeblieben zu sein. Das Kopfkino des Betrachters entwickelt eine Vorstellung von dem Lebensgefühl der Menschen, die in diesem Umfeld arbeiten, leben oder gelebt haben und davon, wie der Rest dieser Etablissements ausgesehen haben könnte.
1979 beginnt Plowden mit den Arbeiten zu seinem Buch "Steel", das 1981 bei Viking Press erscheint. Seine Fotografien zeigen Stahlwerke als menschenfeindliche, "barbarische" Orte und die Stahlproduktion als "groteske", "apokalyptische" Szenerie, in der Stahlarbeiter in ihrer Schutzkleidung als unkenntlich vermummte, schemenhafte Gestalten in einem dampfenden, funkensprühenden Umfeld erscheinen. (David Plowden, "IMPRINTS", Seite 116 ff, Übers. a. d. Engl.)
Oben: Das Foto der Bloomfield Bridge aus dem Jahre 1967 wirkt wie ein gestalterischer Gegenentwurf zu Plowdens Kleinstadt-Motiven, bringt aber die gleiche Intention des Fotografen zum Ausdruck. Es geht Plowden nicht um die Herausstellung von Schönheit, Hässlichkeit, nostalgischen Gefühlen oder ungläubigem Staunen des Betrachters. Der Fotograf ist bemüht, das zu dokumentieren, was durch den Fortschritt allzu unreflektiert vom Verschwinden bedroht ist. Tatsächlich wurde die Eisenkonstruktion 1980 abgerissen und später durch eine Betonbrücke ersetzt. Plowden spielt hier nicht mit großzügigen Flächen und freigestellten Objekten, sondern verstärkt die chaotische Wirkung des Motivs mit einem extrem engen, aggressiv Formen zertrennenden Anschnitt sowie mit einer optischen Verdichtung durch die Verwendung einer längeren Brennweite.
"Bloomfield Bridge, Pittsburgh, Pennsylvania, 1967", aus David Plowden, "IMPRINTS - A Retrospective", Seite 145.
David Plowden blickt heute auf mehr als zwanzig publizierte Bildbände, zahllose Ausstellungen, zwei Forschungsstipendien des Guggenheim und des Smithsonian Institute sowie diverse Lehraufträge an namhaften amerikanischen Universitäten zurück. Seine Fotografien sind in vielen Kunstmuseen vertreten, wie dem Nelson Atkins Museum, dem Figge Art Museum, dem Grohmann Museum, dem George Eastman House, dem Centre for Creative Photography und dem Art Institute of Chicago, um nur einige zu nennen. David Plowden wird in einigen Wochen 86 Jahre alt. Er lebt heute in der direkt am Michigan-See gelegenen Kleinstadt Winnetka in Illinois.
Persönliches Fazit:
Mit beeindruckender gestalterischer Klarheit offenbaren David Plowdens kraftvoll komponierte Schwarz-Weiß-Fotografien seine Liebe zum Detail. Nichts in den sorgfältig gestalteten Fotografien scheint dem Zufall überlassen. Und selbstverständlich beinhaltet das auch die präzise rechtwinklige Ausrichtung seiner Architekturfotos. Die vorliegende Retrospektive mit dem gut gelungenen Vorwort von Alan Trachtenberg, seines Zeichens Professor für Amerikanistik an der Yale University, präsentiert 170 der besten Arbeiten des Fotografen aus einer Zeitspanne von rund vierzig Jahren. Die Bilder sind wie Kunstwerke mit Passepartout einzeln und mit großzügigem Weißraum auf den Seiten platziert und kommen auf diese Weise gut zur Geltung. Die ausgezeichnete Duoton-Druckqualität des Bildbands und das mattweiße, gestrichene Papier geben das reiche Tonwertspektrum der Bilder wieder, vom tiefen Schwarz bis zum reinen Weiß. Leider scheinen einige wenige sehr kontrastreiche Fotos etwas durch und beeinträchtigen damit die jeweils rückseitig abgedruckten Bilder. Insofern hätte ich mir eine etwas höhere Opazität des ansonsten sehr edel wirkenden Papiers gewünscht.
Inhaltlich ist „IMPRINTS“ nach Themen gegliedert (obwohl Plowden dem in seinem Vorwort widerspricht). Jedes Kapitel beginnt mit dem jeweiligen Bildthema und einigen einleitenden Sätzen. Nicht immer ist die darauf folgende Bildauswahl homogen. So finden sich zwei Aufnahmen aus der Brücken-Serie im Kapitel Getreidespeicher, und einige Getreidespeicher-Abbildungen sind im Kapitel Prärie platziert, ohne dass man so recht versteht, warum das so ist. Die knappen Bilduntertitel offenbaren zudem mit Bezeichnung, Ortsangabe und Jahreszahl beim Durchblättern mitunter sehr große Zeitsprünge. Ich hätte bei dieser Retrospektive eine chronologische Gliederung bevorzugt, die damit stärker der thematischen und stilistischen Entwicklung des Fotografen Rechnung getragen hätte.
Warum Lieblingsbuch? Zunächst fühle ich mich David Plowdens Herangehensweise verbunden. Der innere Drang, die allmählich verschwindenden sichtbaren Aspekte unserer Vergangenheit mit den Mitteln der Fotografie für die Nachwelt zu bewahren, findet bei mir Anklang und ist auch Teil meiner eigenen Motivation als Fotograf. Zudem empfinde ich Plowdens Fotografien als inhaltlich spannend und formal sehr ästhetisch. Auf unaufdringliche Art und Weise erzählen seine Bilder Geschichten und laden den Betrachter dazu an, diese mit der Essenz des individuell Erlebten weiterzuspinnen. Dabei sind seine Fotos so detailreich, dass man beim "Spazierengehen mit den Augen" in ihnen immer neue Einzelheiten entdeckt.
Nun drängt sich die Frage auf, was an kargen Landschaften, öden Kaffs und hässlichen Stahlbrücken, die sich über deprimierende Wohnsiedlungen spannen, grundsätzlich so bewahrenswert sein soll. Generell geht es bei diesen Bildern allerdings um mehr als um ein nostalgisch verbrämtes Staunen über die Lebensweise früherer Generationen. In seinem Vorwort stellt David Plowden klar, dass seine Fotografien nicht Ausdruck einer sentimentalen Glorifizierung vergangener Errungenschaften sein sollen, sondern vielmehr Äußerung seiner Wut und seiner Besorgnis über die allgemein um sich greifende unreflektierte Missachtung dessen, was über Generationen aufgebaut wurde. „Ich befürchte, dass wir die Beweise für unsere früheren Errungenschaften so schnell beseitigen, dass wir mit der Zeit das Gefühl verlieren, wer wir sind.“ Die Tragödie des Wegwischens von Erinnerungen an das, was einmal war, geht seiner Überzeugung nach einher mit dem Verlust des Gefühls dafür, was eine Nation eigentlich sein möchte. (David Plowden, "IMPRINTS", Seite 9, Übers. a. d. Engl.)
„Obwohl man mich Dokumentarfotograf nennt, waren meine Themen niemals so wichtig für mich wie das, was sie symbolisieren: Die Hand des Menschen, seine Abdrücke.“
(David Plowden, "IMPRINTS", Seite 9, Übers. a. d. Engl.)
Über Amazon und den spezialisierten Fachhandel sind die Bücher von David Plowden auch in Deutschland erhältlich. Eine Auswahl findet sich in den Amazon-Anzeigen unten.
Text: Copyright 2018 by Klaus Schörner / www.bonnescape.de
Die Abbildungen sind Zitate aus dem betreffenden Buch und sind urheberrechtlich geschützt.
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Angie (Mittwoch, 12 September 2018 07:43)
Ich habe meinem Vater, einem Eisenbahnfan, mal das Buch Requiem for Steam geschenkt. Sagenhafte Fotos. Ich kannte von Plowden bisher nur die Dampflokfotos.
Liebe Grüße Angie
fotochris (Donnerstag, 13 September 2018 10:13)
mach doch mal was über aktuelle fotografen
Gruß, Chris
Klaus (admin) (Donnerstag, 13 September 2018 11:22)
Hi Chris,
ja, das habe ich auch vor, zu gegebener Zeit.
Generell ist es so, dass ich mich nur mit den Fotografen beschäftige, deren Arbeiten mich gerade persönlich interessieren. Wenn ich dann denke, dass es eine Empfehlung für die Leser wert ist, poste ich eine Rezension. Der Post ist aber nicht Zweck, sondern eher Nebenprodukt meiner Beschäftigung mit dem Fotografen. Allerdings schreibe ich gern darüber, weil es mir selbst auch hilft, meine Erkenntnisse auf den Punkt zu bringen.
LG, Klaus