Inspiration: Brutalismus in der Architekturfotografie

Ich hatte schon seit einigen Monaten vor, ein Essay über Brutalismus aus architekturfotografischer Sicht zu schreiben. Nun ist es ausgerechnet Donald Trump, der mich dazu veranlasst, das Thema anzugehen. Genauer gesagt ist es Trump's kürzlich geäußertes Verbot moderner Architekturstile für staatliche Gebäude in den USA. Bekanntermaßen ist dem Präsidenten besonders der Brutalismus ein Dorn im Auge, und so hat er per Dekret bestimmt, dass neue Regierungsgebäude nur noch in klassischen Baustilen errichtet werden sollen.
Wie das einzuschätzen ist, wenn ein Präsident sein Verständnis von Ästhetik zur Staatsdoktrin erhebt, möchte ich hier nicht kommentieren. Dazu sind seit Bekanntgabe des Dekrets lesenswerte Artikel erschienen, zu denen ich unten einige Links anhänge. Vielmehr möchte ich darauf eingehen, was brutalistische Architektur eigentlich ist und warum diese für uns Fotografen ein reizvolles Sujet sein kann.
Was ist Brutalismus?
Brutalismus bezeichnet ursprünglich eine architektonische Stilrichtung, die in den 1950er bis 1970er Jahren bei Neubauten weit verbreitet war. Der Begriff des Brutalismus soll auf den Ausdruck "béton brut" (frz: „roher Beton“) zurückgehen, der von dem Architekten Le Corbusier verwendet wurde, um die unbehandelten Oberflächen seiner Betonbauten zu beschreiben – also Beton, der nach dem Ausschalen unverputzt und in seiner natürlichen, oft rauen Form sichtbar bleibt.
Im architekturtheoretischen Diskurs wurde "Brutalism" dann insbesondere durch das britische Architektenpaar Alison und Peter Smithson und den Architekturkritiker Reyner Banham nicht nur materialbezogen, sondern auch im Sinne einer ethischen Haltung interpretiert – für eine Architektur, die kompromisslos, ehrlich, funktional und sozial orientiert sein sollte. Banham prägte in diesem Zusammenhang den Begriff "New Brutalism" ("Neuer Brutalismus").
Die ideologischen Ursprünge des Brutalismus sind im sozialen Idealismus der Nachkriegszeit zu sehen. Europa war durch den Zweiten Weltkrieg großflächig zerstört und der Ruf nach einer gerechteren, funktionalen Gesellschaft wurde laut. Durch seine kostengünstige und robuste Bauweise kam Brutalismus dem hohen Bedarf an Wohnraum zugute und fand häufige Verwendung im staatlichen Wohnungsbau, aber auch bei öffentlichen Gebäuden, bei Bildungseinrichtungen und anderen funktionalen Bauten. Weltweit sahen sich brutalistisch arbeitende Architekten dabei auch in einer moralischen Verantwortung. Architektur sollte nicht länger nur schön oder repräsentativ sein – sie sollte gesellschaftlich nützlich und ehrlich sein. Eine ornamentale Fassadengestaltung wurde als dekorative Täuschung abgelehnt. Stattdessen sollte die Erscheinungsweise verständlich und zweckmäßig sein. Gebäude sollten durch die Sichtbarkeit ihrer Konstruktion und durch die Inszenierung ihrer verwendeten Materialien zeigen, wie sie gebaut sind. Funktionale Elemente wie Rohrleitungen, Aufzüge oder Treppen wurden nicht mehr verdeckt, sondern offen und sichtbar gezeigt. Neben dem dominierenden Sichtbeton wurden auch andere Materialien wie Ziegel, Glas, Stahl oder Stein verbaut.

Oben: Klar strukturierte brutalistische Gebäudefassade.

Oben: Sichtbare Konstruktion eines brutalistischen Gebäudekonzeptes.
Kritik, Verfall und Bestandssicherung
Brutalistische Architektur hat also nichts mit "Brutalität" zu tun, auch wenn die wuchtigen, unfertig und schroff wirkenden Formen aus unverputztem Beton dies nahezulegen scheinen. Trotz seines Ursprungs als Ausdruck von Fortschritt und sozialen Idealen war der Brutalismus keineswegs unumstritten und wurde von vielen als unästhetisch, autoritär und einschüchternd empfunden. Dazu kam, dass sich das Baumaterial stärker als erwartet für Verschmutzung und Schäden anfällig zeigte. Der unverblendete Beton entwickelte im Laufe der Zeit eine deutliche Patina. Daher fielen seit der Jahrhundertwende viele brutalistische Bauten der Abrissbirne zum Opfer, so dass es mittlerweile Ansätze zur Bestandsrettung gibt. Die Kampagnen-Website von #SOSBrutalism vermittelt einen weltweiten Überblick über Vielfalt und Standorte brutalistischer Architektur.

Heutzutage findet der Stil nicht zuletzt wegen seiner kulturellen und architekturhistorischen Bedeutung wieder Anerkennung und Architekten entwerfen wieder Gebäude mit brutalistischen Elementen. Gegen diese richtet sich jetzt pauschal Trump's Dekret.
Brutalistische Architektur fotografieren
Für die fotografische Auseinandersetzung mit brutalistischer Architektur bieten sich unterschiedliche Ansätze an. Hier ein paar Impulse:
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Form und Geometrie: Brutalismus lebt von einer klaren Linienführung und der markanten Zurschaustellung von Volumen. Farbe spielt eine
untergeordnete Rolle. Insbesondere Schwarzweiß-Fotografie kann diese Aspekte mit einer Betonung von Licht, Schatten und Struktur gut herausstellen. Starke Kontraste mit bewusst
unter- oder überbelichteten Bereichen können dabei für grafische Effekte genutzt werden und dramatisierend wirken.
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Texturen und Material: Nahaufnahmen von Betonoberflächen vermitteln die rohe Haptik des Materials. Streiflicht macht Unebenheiten und Strukturen sichtbar.
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Mensch, Architektur, Raumgefühl, Leere: Der Mensch wirkt klein im Vergleich zur Monumentalität brutalistischer Gebäude. Die
Darstellung dieser Proportionen kann ein fotografisches Thema sein. Durch Leere oder gezielt platzierte Personen lassen sich z.B.
Isolation oder Einsamkeit zum Ausdruck bringen.
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Lichtstimmungen: Weiches Licht bei bedecktem Himmel kann den Aufnahmen einen sachlichen, dokumentarischen Charakter
verleihen. Intensives Sonnenlicht am Nachmittag lässt lange Schatten und harte Kontraste entstehen, die den skulpturalen Charakter der Gebäude betonen.
Schlagschatten können eine grafische Bildwirkung erzeugen. Im Gegenlicht können Gebäude als dunkle, grafische Formen den monumentalen Charakter hervorheben. In der Dämmerung kann die Mischung von natürlichem und künstlichem Licht zu unerwarteten Effekten und Stimmungen führen.
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Innenräume mit Lichtakzenten: Brutalistische Architektur spielt oft gezielt mit der Lichtführung im
Inneren. Punktuelle Lichteinbrüche durch kleine Fenster, Oberlichter oder Treppenhäuser können je nach Tageszeit zu einer visuell spannenden Inszenierung des Interieurs führen.
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Symmetrie und Perspektive: Strenge Bildkompositionen und zentralperspektivische Bildgestaltung verstärken den oft autoritär und
monumental wirkenden Charakter brutalistischer Bauten. Eine Aufnahmerichtung von unten nach oben lässt Gebäude bedrohlich oder übermächtig wirken.
- Verfall und Patina: Viele brutalistische Gebäude sind heute verwittert oder stehen leer und sind vom Abriss bedroht. Fotos können den Zustand dokumentieren oder mit Lost Place Ästhetik emotionalisieren. Eine rostige Armierung, eine bröckelnde Betonecke, ein dunkler Durchgang – derartige Motive schaffen Atmosphäre. Nebel oder Regen können dieser Stimmung einen zusätzlich dystopischen Charakter verleihen.

Oben: Geometrische Formensprache wird durch das direkte Sonnenlicht mit harten Schatten in Szene gesetzt.

Oben: Raumgefühl und Leere – brutalistischer Wohnraum

Oben: Lichtakzente zur Betonung von Struktur und Fläche

Oben: Lost Place Stimmung – Sichtbeton mit Patina
Zur Inspiration einige Hinweise zu Fotografen, die sich in ihren Arbeiten mit brutalistischer Architektur beschäftigt haben:
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Der englische Fotograf Simon Phipps ist
bekannt für seine Schwarzweiß-Aufnahmen von brutalistischen Bauten. Nicht zuletzt durch den Verzicht auf Farbe lenkt er die Aufmerksamkeit auf Licht, Schatten und Struktur, wodurch die
geometrischen Formen und der materielle Charakter des Sichtbetons besonders hervortreten. Seine Website bietet einen guten Überblick über die von ihm fotografierten Gebäude sowie
einen Webshop, in dem Prints seiner Arbeiten erworben werden können.
www.simonphipps.co.uk
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Wayne Thom, ein renommierter chinesisch-amerikanischer Architekturfotograf,
dokumentierte in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche brutalistische Gebäude. Der heute 91jährige ist seit 10 Jahren nicht mehr aktiv. Seine Website ist wenig aufschlussreich, seine
Arbeiten werden in einer Sammlung verwahrt. Es gibt aber etliche lesenswerte Artikel in Online-Magazinen über ihn und Buchpublikationen zu seinen Arbeiten sind ebenfalls
erhältlich.
en.wikipedia.org/wiki/Wayne_Thom
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Der Fotograf Levi Wells nutzte das weiche
Morgenlicht, um die brutalistische Architektur des Hotel Casa TO in Mexiko zu fotografieren. Die diffusen Lichtverhältnisse betonten die klaren Linien und Formen des Gebäudes, während die
sanften Schatten die Textur des Betons hervorhoben.
apalmanac.com/potw/levi-wells-photographs-a-beautiful-example-of-brutalist-architecture-in-under-an-hour-177066
Auf seiner Website präsentiert Levi Wells Fotografien von einer Vielzahl weiterer brutalistischer Gebäude mit einem Schwerpunkt auf gehobenem Wohnambiente.
www.leviwells.com/
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Der italienische Fotograf Roberto Conte präsentiert vor allem bei Instagram und zeigt in seinen Farbfotografien eine große Vielfalt brutalistischer Architektur. Das Spektrum seiner Motive macht deutlich, dass die Grenzen dieses Stils
durchaus fließend sind.
www.instagram.com/ilcontephotography/
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Der Werbefotograf Ming Thein hat in seinem Fotoessay „Architectural shadows in monochrome, Prague“ gezeigt, wie hartes Licht und tiefe Schatten
die Formensprache von Architektur betonen können. Seine Schwarz-Weiß-Aufnahmen fokussieren sich auf das Zusammenspiel von Licht und Schatten, wodurch Textur und Geometrie der Gebäude
hervorgehoben werden.
blog.mingthein.com/2017/01/03/photoessay-architectural-shadows-in-monochrome-prague/

Oben: Sozialer Wohnungsbau im brutalistischen Stil.

Oben: Brutalistisches Konzept aus Sichtbeton und Glas

Oben und unten: Brutalistische Stadthausfassaden

Copyright 2025 by Klaus Schörner / www.bonnescape.de
Digital Artwork unter Verwendung von Midjourney, Lightroom und Photoshop
Quellen-Recherche unter Verwendung von ChatGTP
Quellenangaben zu Trump's Dekret:
Ruthe, Ingeborg: Fassaden wie im Römischen Reich: Trump verfällt dem Cäsarenwahn, 29.03.2025
Schadewald, Kay: Trump will einheitlichen Stil für Regierungsgebäude anordnen, 11.02.2020
Wrobel, Ignatz: Beton ist böse: Trump macht Architekturpolitik, 24.02.2025
baukunst.art/beton-ist-boese-trump-macht-architekturpolitik/
Quellenangaben zu Brutalismus:
Beyer, Greg: 8 Great Examples of Brutalist Architecture, 14.03.2023
Brentini, Fabrizio: Der Brutalismus – zu einem irreführenden Architekturbegriff,
in Literatur & Kunst / a magazine of literature + art, Nr. 105, 11/2017
Brutgroup: @Instagram www.instagram.com/brutgroup/?hl=en
Huppatz, DJ: Brutalism: How to Love a Concrete Beast, 02.09.2019
theconversation.com/brutalism-how-to-love-a-concrete-beast-122469
Levanier, Johnny: Brutalismus im Design: Seine Geschichte und Evolution in modernen Webseiten, 2021
99designs.de/blog/designgeschichte-stroemungen/brutalismus-im-design/
Maganga, Matthew: Color, Composition, and Scale: Analyzing Brutalist Photography, 25.03.2023
www.archdaily.com/994163/colour-composition-and-scale-analysing-brutalist-photography
Orlik, Simone: Brutalismus: Die rohe Kunst moderner Architektur, 29.08.2023
#SOS BRUTALISM www.sosbrutalism.org
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Robert (Dienstag, 06 Mai 2025 10:02)
Danke für den Tipp und die Einführung. Schön sind diese Gebäude nicht, da kann man den Abriss verstehen. Aber ein präsidiales Verbot scheint mir pauschal, anmaßend, undemokratisch. Das müsste doch im konkreten Fall, mit konkreten Entwürfen und mit Berücksichtigung der Umgebung und anderer Faktoren von örtlich verantwortlichen Stellen entschieden werden. Fotografisch sicher reizvoll. Aber nicht für mich. Ich fotografiere lieber schöne Dinge :-)
R.
Rudi K. (Freitag, 16 Mai 2025 09:55)
Ich bin Jahrgang 60 und mit diesen bunkerähnlichen Klötzen aufgewachsen. Schule, Turnhalle, Stadtbibliothek, Uni, alles brutalistische Gebäude. Heute wohne ich in einer süddeutschen Kleinstadt und genieße die "klassische" Architektur. Je eher diese hässlichen Klötze abgerissen werden, umso besser. Allerdings bin ich auch der Ansicht, dass man sie vorher fotografisch dokumentieren sollte. Immerhin sind sie Teil unserer Geschichte und Kultur, wie in dem Artikel beschrieben. Zu dem Verrückten in Übersee möchte ich mich lieber nicht äußern.