Fotos auf Kinofilm: Filmtest CineStill 800T
Nächtliche Straßen im Dunst der Großstadt, fahles Laternenlicht, Leuchtreklamen, die sich in Pfützen spiegeln, bleiche Models an einsamen U-Bahn-Stationen – die Internet-Recherche nach dem CINESTILL 800T liefert die Art von Bildern, die man mit einem hochempfindlichen, für Kunstlicht sensibilisierten Farbfilm heutzutage erwarten würde. Und es sind diese Motive mit einem cinematischen Look, für die der Film offenbar beste Voraussetzungen mitbringt. Nicht ohne Grund ist der 800T aktuell besonders bei Fotografen mit einem Hang zu Street & Underground Motiven beliebt. ...
Kinofilmmaterial zum Fotografieren
Eigentlich handelt es sich ja um ein Aufnahmematerial für Kinofilmproduktionen – hergestellt von Kodak unter dem Namen "Vision3 500T Color Negative Film 5219". Namhafte Spielfilme wie Dunkirk, Thor, La La Land, The Hateful Eight und etliche andere sollen noch in jüngerer Zeit damit gedreht worden sein. Findige Unternehmer haben entdeckt, dass sich das Kino-Zelluloid auch gut zum Fotografieren eignet und machen es mit umkonfektionierten Produkten wie dem Silbersalz 500T, dem Cinegrell Cinema 500T, dem Bokkeh 500T/5219 oder dem MyHeart 5219 auch für die Verwendung in gängigen Fotokameras zugänglich. Das Material verlangt allerdings eine Entwicklung nach dem ECN-2 Standard, der nur von wenigen spezialisierten Laboren angeboten wird und kaum für konfektionierten 35mm Film zur Verfügung steht. Im Heimlabor ist eine Verarbeitung derartiger Filme grundsätzlich möglich, entsprechende Chemikaliensätze sind im gut sortierten Fachhandel erhältlich. Eine Herausforderung kann aber das Entfernen der schwarzen Remjet-Beschichtung darstellen. Dabei handelt es sich um eine auf der Filmträgerseite aufgebrachte Kohlenstoff-Gelatine-Schicht, die dem Kinomaterial beim Lauf durch die Filmkamera unter anderem als Schutz vor Kratzern und statischer Aufladung dient. Eventuell soll der Name "Rem(-ovable-)jet" bereits andeuten, dass die Schicht im professionellen Verarbeitungsprozess mit Düsenstrahlen vom Film abgespritzt wird. Praxisberichte im Internet zeigen, wie das Abwaschen der Schicht unter Zuhilfenahme von Waschsoda und Schwamm notfalls auch im Heimlabor realisierbar ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob unter diesen Umständen ein Verkratzen des Films vermieden werden kann und ob sich der Aufwand insgesamt lohnt. Einige Anbieter von konfektionierten Filmen wie Silbersalz (D) und CineGrell (CH) bieten ihren Kunden ein vereinfachtes, bereits im Kaufpreis enthaltenes Prozedere an. Dazu schickt man die belichteten Filme zur Verarbeitung an das betreffende Unternehmen und erhält nach einer mitunter mehrwöchigen Bearbeitungszeit die entwickelten Filme und digitale Scans zurück.
Rechts: Nachtaufnahme mit der Fujifilm GA645W auf CineStill 800T. Auffälligstes Merkmal des Films ist die Wiedergabe der Lichter mit roten Lichthöfen.
Unten: Roh-Scan. Nahezu alle, ausschließlich bei Kunstlicht entstandenen Bilder bedürfen einer Grünabschwächung.
Konfektionierte Filme von CineStill Film
Einen anderen Weg geht das Unternehmen CineStill Film und liefert konfektionierte Vision3 Roll- und Kleinbildfilme, deren Remjet-Beschichtung bereits entfernt (oder vielleicht gar nicht erst aufgebracht) wurde. Für den Anwender bedeutet das, dass CineStill-Filme mit handels- und laborüblichen C41-Entwicklungsprozessen verarbeitet werden können. Auf das Filmmaterial soll das Fehlen der Beschichtung folgende Auswirkungen haben:
- Durch die C-41-Entwicklung erhöht sich die Filmempfindlichkeit von ISO 500 auf ISO 800.
- Da die Remjet-Schicht auch dem Schutz vor sogenannten Lichthöfen dient, neigen die Filme ohne Beschichtung dazu, um Lichtquellen herum typische rote Strahlenkreise abzubilden. Diese entstehen in der Kamera durch Reflexion von der Filmandruckplatte.
- Das Fehlen der lichtschluckenden Beschichtung erhöht das Risiko von Lichteinfall durch den Öffnungsschlitz der Filmpatrone. Möchte man dies vermeiden, ist es ratsam, den Film in der Originalverpackung aufzubewahren und das Laden und Entladen der Kamera nur bei gedämpftem Umgebungslicht vorzunehmen.
- Mit Blick auf den fehlenden Kratzer- und Antistatikschutz empfiehlt CineStill Vorsicht bei der Handhabung und rät davon ab, den Film mit hoher Geschwindigkeit durch die Kamera zu jagen.
Oben: Gegenlichtaufnahme am späten Nachmittag mit der GA645W auf CineStill 800T. Die roten Farbsäume entlang der Hochkontrastkanten sind nicht etwa chromatische Aberrationen des Objektivs, sondern entsprechen den Lichthöfen, die der Film auch um punktförmige Lichter herum als Reflexionen von der Filmandruckplatte abbildet.
Oben: Landschaftsaufnahme mit GA645W und CineStill 800T, Roh-Scan ohne Farbanpassung.
Unten links: Bildvariante mit Korrekturfilter KR15 während der Aufnahme.
Unten rechts: Gleiches Bild wie oben, nachträglich am Rechner mit Gelb gegengefiltert.
Da der 800T für Kunstlicht kalibriert ist, liefert er im Tageslichteinsatz farblich kühle Bildergebnisse, die aber zumindest bei hellen Motiven nicht unbedingt farbstichig wirken. Eine Zugabe von 20% Gelb während der Postproduktion gelangt zu einem ähnlichen Ergebnis wie eine Korrekturfilterung während der Aufnahme. Beim Himmelsblau ist das hier schon etwas zu viel Gelb.
Fotografieren mit dem CineStill 800T
Entsprechend dem Ausgangsmaterial ist der CineStill 800T ein Kunstlichtfilm mit einer Kalibrierung auf eine Farbtemperatur von 3200 K, was in etwa der hellen warmweißen Lichtfarbe von Halogenlicht entspricht. Unter Tageslichtbedingungen würde man normalerweise einen orangen KR15- oder 85B-Filter verwenden, damit die Bildergebnisse nicht zu kühl ausfallen. Das wird auch von CineStill Film empfohlen, speziell dann, wenn die Filme knapp belichtet werden sollen. Das Unternehmen verspricht aber, dass man alternativ anstelle eines Filters den Farbabgleich auch beim Scannen vornehmen kann. Dazu wird geraten, den Film um ein oder zwei Blendenstufen überzubelichten. Generell soll das Filmmaterial auf Überbelichtung bis zu drei Blenden (ISO 100) und Unterbelichtung bis zu mehr als einer Blende (ISO 2000) genügsam reagieren. CineStill rät dazu, generell auf die Schatten zu belichten, da die Zeichnung in den Lichtern mehr Spielraum bieten soll.
Quelle: FAQs cinestillfilm.com
Rechts: Feldweg bei Nacht mit der GA645W auf CineStill 800T. Der Farbnegativfilm gefällt mit seiner natürlichen Tonwertwiedergabe und einem breiten Belichtungsspielraum, der erst bei extremen Kontrasten wie hier im Bild an seine Grenzen gerät. Das Filmkorn kann in den Tiefen recht ausgeprägt sein. Die roten Lichthöfe sind natürlich Geschmackssache, zählen aber zu den unverwechselbaren Merkmalen dieses Films.
Fazit:
Digital erzeugte Fotos: zu perfekt, zu clean, zu eintönig, zu viel davon? Ein starker Trend bewegt die Fotoszene, Bilder mit Abbildungsfehlern – Verzeihung, "Charakter" – sind gefragt. Viele Fotografen adaptieren Objektivklassiker an moderne Digitalkameras und versuchen diejenigen Bildfehler zu kultivieren, die die Optikkonstrukteure früherer Zeiten auszumerzen suchten. Manche Kreative zieht es zurück zu analogen Materialien. Sogar fast vergessene Verarbeitungstechniken erleben eine Renaissance. Warum also nicht mit einem für Kunstlicht kalibrierten Kinofilm fotografieren? Die bei Kodak nach wie vor brummende Filmproduktion, befeuert von namhaften Filmregisseuren wie Tarantino, Nolan, Lucas u.v.a. macht es möglich. Clevere Unternehmer zwacken sich etwas ab von dem Kino-Zelluloid und konfektionieren es für die Verwendung in gängigen Fotokameras.
Ein im Rahmen dieses Trends besonders gelungenes Produkt ist der hier vorgestellte CineStill 800T. Der Film ist seiner Schutzschicht entledigt und verstärkt daher genau die analogen Merkmale, die man durch die Beschichtung normalerweise vermindern möchte: Rot überstrahlte Lichter, zufälliger Lichteinfall in die Filmpatrone, Fehlfarben. In belichtungs- und farbtechnischer Hinsicht überzeugt der 800T durch eine gutmütige Bandbreite und eignet sich – gegebenenfalls mit einer moderaten Korrektur beim Scannen – nicht nur für Fotos bei Kunstlicht. Entscheidender Vorteil ist, dass man den Film in nahezu jedem Groß- und Kleinlabor mit dem gängigen C41-Verfahren entwickeln lassen kann. Hinsichtlich seiner Verarbeitungsqualität kommt der 800T mittlerweile ohne die kleinen Beschädigungen, die früher bei der Entfernung der Remjet-Schicht auftreten konnten. Mit aktuell knapp 13,50 € für einen Kleinbildfilm* und rund 14,50 € für einen 120er Rollfilm* ist das Material keineswegs billig und zwingt zu bewusstem Fotografieren. Summa summarum aber ein toller Film für Kleinbild- und Mittelformatkameras, der mit seiner speziellen, unverwechselbaren Charakteristik den kreativen Spielraum durchaus erweitern kann, – zumindest, so lange seine Effekte eine Besonderheit bleiben und nicht inflationär ausufern. Mit dem 50D bietet CineStill auch noch eine niedrigempfindliche Tageslichtvariante an.
* (Erhältlich im gut sortierten Fachhandel. Preise Dezember 2021)
Oben: Heute wieder gefragt: Spuren zufälligen Lichteinfalls, die bei Filmen ohne Remjet-Schicht sehr leicht auftreten können, betonen den analogen Charakter. CineStill 800T, Fujifilm Ga645W
Copyright 2022 by Klaus Schörner / www.bonnescape.de
Hinweis: Mein Bericht gibt unbeeinflusst meinen Eindruck von und meine Erfahrungen mit dem beschriebenen Film wieder. Ich habe keine Verbindung zu dem Hersteller, erhalte keine Vergütung für diesen Bericht und kaufe die Filme zum ganz normalen Preis im Fotofachhandel.
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mb (Donnerstag, 27 Januar 2022 13:33)
Ich freue mich, dass ich diese Seite gefunden habe. Ich habe öfter von diesen Filmen gehört und Bilder gesehen und mich gefragt, was es mit diesen roten Kringeln um die Lampen auf sich hat. Dank deines Artikels weiß ich es jetzt endlich :-)
LG, Margit
T.Drexler (Montag, 31 Januar 2022 09:38)
Ich sehe bei Fotoimpex ECN-2 Chemie. Kann man die nicht auch einsetzen oder ist die nur für Filme mit Remjet?
VG Tom
Klaus (admin) (Montag, 31 Januar 2022 18:31)
@ Tom: Man kann diese Filme in ECN-2 entwickeln. Ob die noch eine Remjet-Schicht haben oder nicht, spielt dabei zunächst keine Rolle. Ich habe das aber selbst noch nicht gemacht und kann daher keine Auskunft dazu geben, ob das gegenüber der C41-Entwicklung im Ergebnis Vorteile hat. Von Kollegen hörte ich, dass der Entwickler weicher arbeitet als C41. Außerdem soll das eine ziemlich giftige Brühe und vergleichsweise teuer sein.