Die alte Schrottkamera aus der Bucht
Schmutzig und verrostet, mit aufgerissenem Lederbalgen, das Objektiv blind, der Verschluss tot – das armselige Konstrukt ohne Mattscheibe und Rückteil war irgendwann mal eine
9x12 cm Plattenkamera. Über dem Häufchen Elend liegt ein muffiger Kellergeruch. Als Spontankauf für einen Zehner bei einer Online-Auktion erstanden, sollen mir die kümmerlichen
Reste als Ersatzteilspender dienen.
Aber dann kommt es doch ganz anders ...
Die Kamera
Nachdem ich die Objektiv-Beschriftung lesbar geputzt habe, wird mit Hilfe des "Kadlubek"* eine Identifizierung möglich. Das Objektiv ist ziemlich selten, und die Kombination mit einem Compur-Verschluss an einer Plattenkamera mit dem Aufnahmeformat 9x12 cm gab es nur bei einem einzigen Modell. Der Kameraschrott war demnach eine "Merkur 9x12" und wurde im Jahr 1926 bei Julius Laack Söhne, Werkstätten für Präzisions-Optik und Mechanik, im brandenburgischen Rathenow produziert.
* Kadlubek's Camera Catalogue, 4.Aufl., Neuss 2000, p. 369
Rechts: Die Reste der alten Merkur, fotografiert mit ihrem eigenen Objektiv, das ich dazu an meine Sinar montiert habe. Das Objektiv ist im Nahbereich sehr scharfzeichnend.
Der Verschluss
... ist ein Compur der Größe #0 mit 10 Blendenlamellen, produziert von der Friedrich Deckel GmbH, München. Er ist der eigentliche Grund für meinen Kauf. Ich möchte einige Teile entnehmen, um eine andere Kamera damit instand zu setzen. Nach dem Öffnen des Gehäuses stelle ich allerdings fest, dass der Zustand gar nicht so schlecht ist, wie das Äußere vermuten lässt. Alte, mittlerweile verharzte Schmiermittelreste haben die Mechanik verklebt, aber von der Substanz her ist der alte Compur funktionsfähig. Kurz, ich bringe es nicht übers Herz, ihn zu schlachten, sondern gebe mich mit Schraubenzieher, Wattestäbchen, Waschbenzin und ein paar Tropfen Uhrenöl ans Reinigen. Nach einer Stunde Arbeit läuft der Verschluss wieder. Mein Kameraprojekt, für das ich den vermeintlichen Schrott gekauft habe, wird noch etwas auf Ersatzteile warten müssen.
Oben: Der Polyxentar Doppel-Anastigmat ist ein hübscher kleiner Sechslinser aus dem Jahr 1926 und hat mitsamt seinem Compur-Verschluss die Jahrzehnte unter der Schmutzschicht gut überstanden.
Das Objektiv
Unter der Schmutzschicht ist ein 1:6.8/135 mm Laack Polyxentar Doppel-Anastigmat zum Vorschein gekommen. Der Sechslinser ist symmetrisch aufgebaut. Zwei gleiche, in sich verkittete Triplets sind in den vorderen und hinteren Teil der Fassung eingesteckt und dort mit Schraubringen fixiert. Der vordere Teil des Objektivs ist von vorn in den Compur eingeschraubt, der rückwärtige Teil von hinten, so dass sich die Verschluss- und die Blendenlamellen zwischen den Triplets befinden. Mit feuchten Brillenreinigungstüchern und dem Fingernagel gelingt es mir, den festsitzenden, matten Belag vorsichtig von der Frontlinse zu lösen. Die anderen Glasflächen sind lediglich verstaubt. Das Ergebnis meiner Reinigung ist ein 95 Jahre altes Kleinod aus Messing und Glas mit feinen Gravuren. Ich bin gespannt auf die Bilder, die man damit machen kann.
Oben: An der Sinar wirkt das kleine Objektiv winzig, hat aber einen riesigen Bildkreis, der sogar größere Aufnahmeformate als 4x5" ausleuchtet.
Fotografieren mit dem Polyxentar
Der kleine Sechslinser hat einen überraschend großen Abbildungskreis. Bei Scharfstellung auf "Unendlich" lässt sich die Frontstandarte um ganze 53 mm nach oben verschieben, bevor ich im Hochformat die Grenze des Bildkreises erreiche. Dazu muss ich an der Sinar schon auf den Weitwinkelbalgen wechseln. Das Polyxentar würde also ein 13x18 cm Aufnahmeformat noch mit Verschiebereserven auszeichnen, wobei es dann zu den Rändern hin aber schon deutlich dunkler wird. Typisch bei den Doppel-Anastigmaten ist, dass man nach Abschrauben des Frontelements den hinteren Teil für Aufnahmen mit etwa doppelter Brennweite nutzen kann. Das halbe Polyxentar mit der davor platzierten Blende liefert dann die Bildwirkung eines dreilinsigen Teleobjektivs, benötigt zum Scharfstellen aber auch den doppelten Balgenauszug, der jedenfalls mit der alten Merkur nicht zu realisieren war. An der Sinar ist der Effekt aber ganz nett, obwohl die Abbildung sehr dunkel wird und zusätzlich abgeblendet werden muss, damit man ein einigermaßen scharfes Bild erhält.
Oben: Das Polyxentar stammt aus einer Zeit, als es noch keine reflexmindernden Linsenbeschichtungen gab. Fotografieren bei Gegenlicht führt daher meist zu flauen, überstrahlten Bildern.
Foto mit dem 6.8/135 mm Laack Polyxentar an der Sinar F.
Oben: Fotografieren in der Buchenallee. Das Polyxentar an der Wista 45 SP.
Oben: Buchenallee, aufgenommen mit dem 6.8/135 mm Polyxentar an der WISTA 45 SP. Fokussierung auf den zweiten Baum von rechts in der Bildmitte. Blende 6.8, 1/100 Sekunde. Scan mit dem V800 Photo auf 108 Megapixel.
Oben: Ausschnitt 100% auf den Fokusbereich bei Blende 6,8. So richtig scharf ist bei offener Blende eigentlich nichts, aber die fluffige Weichheit hat seinen Charme und passt gut zu dem Frühsommermotiv.
Oben: Gleicher Ausschnitt bei Blende 16. Das Objektiv lässt sich bis Blende 50 schließen.
Oben: Ausschnitt 100% auf den Hintergrund: Das Bokeh bei Offenblende gefällt.
Fazit
Ein fast 100 Jahre altes Objektiv mitsamt seinem Verschluss aus einem verrosteten, verdreckten Haufen Kameraschrott zu befreien, zu reinigen, zu reparieren, mit passenden Filtern, neuen Objektivdeckeln und einer modernen Objektivplatte auszustatten und an einer meiner Großformatkameras damit zu fotografieren, empfinde ich als befriedigend. Dabei spielt der konservatorische Aspekt eine Rolle, ebenso wie der Reiz, alte bewährte Technik wieder einsatzfähig zu sehen. Es ist aber immer auch die Suche nach der besonderen Abbildungs-Charakteristik eines alten Objektivs, die mich dabei umtreibt, und das Ziel, diese für meine Bilder zu nutzen.
Bei niedrigen Blendenwerten liefert das 95 Jahre alte Polyxentar Bilder mit einem weichen, verträumten Look, den ich interessant und bei dazu passenden Motiven ansprechend finde. Als Sechslinser scheint mir das Objektiv recht gut auskorrigiert, hat dadurch aber auch viele Linsenflächen, die mangels Vergütung für unerwünschte Reflexe und Doppelbilder sorgen. Die Detailschärfe eines moderneren Objektivs mit vergüteten Linsen wird nicht erreicht. Auch dann nicht, wenn man voll abblendet, das Streulicht wirksam abschirmt und Gegenlicht vermeidet. Dennoch ist unter kontrollierten Lichtbedingungen eine beachtliche Abbildungsleistung möglich (siehe Foto der alten Merkur oben). Auf jeden Fall ist das Laack Polyxentar 6.8/135 mm ein interessantes Großformatobjektiv für 4x5" und größer zum Experimentieren besonders für Motive, bei denen eine weiche Bildwirkung gewünscht ist.
Copyright 2021 by Klaus Schörner / www.bonnescape.de
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Martin K (Montag, 17 Mai 2021 10:33)
Ein liebenswerter Artikel. Das Lesen hat mir Freude gemacht. Kann mir gut vorstellen, dass das Wiederbeleben eines antiken Objektivs befriedigend ist. Zumal, wenn dann so schöne Bilder dabei herauskommen. Das letzte Bild ist ja fast wie mit einer Lochkamera fotografiert.
Es grüßt der Martin
Klaus (admin) (Dienstag, 18 Mai 2021 18:10)
Hallo Martin, danke für dein positives Feedback.
Stimmt. Fast wie mit einer Lochkamera. Tatsächlich nähern sich die Abbildungscharakteristika verschiedener Objektive mit zunehmender Abblendung immer mehr an. Irgendwann kommt dann Beugungsunschärfe dazu und am Ende – voll abgeblendet – könnte man zumindest bei Großformatobjektiven das Glas vielleicht sogar ganz weglassen. Eine gewagte, weil stark verallgemeinernde These, aber im Gegenteil könnte man daraus folgern, dass Objektive ihre Abbildungseigenheiten nur bzw. am besten bei Offenblende offenbaren.
LG, Klaus
Lydia (Mittwoch, 07 Juli 2021 23:07)
Hallo!
Kann man auch Linsen alter Mikroskope retten und z.B. an eine defekte Kamera oder Objektiv tun?
Klaus (admin) (Donnerstag, 08 Juli 2021 07:59)
Hallo Lydia,
grundsätzlich ja. Ob das fotografisch sinnvoll ist, hängt aber von der Kamera ab und von Brennweite und Bildkreis der betreffenden Linse. Und bei einzelnen Linsen oder Objektiven aus einem Mikroskop besteht natürlich auch das Problem der Befestigung an der Kamera.
VG, Klaus