Der vergessene Film

Der vergessene Film in der Flohmarkt-Kamera

Eine 40 Jahre alte Aufnahme von einem vergessenen AGFA CNS2 Film in einer Boxkamera vom Flohmarkt.

Auf einem Flohmarkt habe ich eine Boxkamera aus den 50ern gekauft. Es ist noch ein alter Film drin. Der Händler kann dazu nichts sagen. Ein Testfilm? Oder der letzte Film des ehemaligen Besitzers? Wer weiß, wie lange der schon in der Kamera liegt. Hoffnungslos überlagert, unabsichtlich dem Licht ausgesetzt von Leuten, die einen Blick ins Innere der Kamera werfen wollten und das Ding dann erschreckt wieder zugeklappt haben. Ob da noch Fotos drauf sind? 

Soll ich den mal entwickeln?

Ich habe fast das Gefühl, dass ich es dem ehemaligen Besitzer der Kamera schuldig bin. Schließlich gehört das Ding jetzt mir und Besitz verpflichtet. Sicher hat der Fotograf sich damals etwas dabei gedacht, als er die Bilder geschossen hat. Vielleicht ist er/sie damals nicht mehr dazu gekommen, die Bilder zu entwickeln. Falls überhaupt welche drauf sind. Sollte das aber der Fall sein, dann warten diese Bilder womöglich seit Jahrzehnten darauf, dass sich mal einer erbarmt und sie wachküsst, bevor sie durch Alterung, Lichteinfall oder Wegwerfen vernichtet werden, ohne dass sie jemals angesehen wurden. 

Das hat etwas Voyeuristisches

Ich habe also ehrenwerte Absichten. Oder ist es schlicht meine Neugier, die mich dazu treibt? Wer weiß, wann der Film aufgenommen wurde und was er gesehen hat. Spannend. Das ist ein bisschen wie bei David Hemmings, der in "Blow Up", dem Fotografen-Kultfilm aus den Sixties, den Protagonisten Thomas spielt. Dieser entdeckt beim Entwickeln seiner beiläufig geschossenen Fotos Hinweise für einen Mord. Grundsätzlich finde ich es beim Sammeln alter Kameras reizvoll, darüber zu philosophieren, was diese Apparate alles gesehen haben und von wem sie möglicherweise benutzt wurden. Es muss ja nicht gleich ein Kriminalfall sein. Aber wen haben sie abgebildet, der vielleicht schon längst verstorben ist, während seine Abbildung auf Film, Glas oder Papier noch immer Beleg für seine/ihre Existenz und sein/ihr damaliges Aussehen ist? Das ist zum großen Teil hypothetisch, aber spannend, und je älter eine Kamera, umso faszinierender ihre mögliche Geschichte. Zumal, wenn noch ein Beweis für die gesehenen Bilder quasi als  "lebendiges" Relikt in ihr steckt. Mein Entschluss steht fest: Ich entwickle das Ding.

Leichter gesagt, als getan

Hmh ..., ein AGFA CNS2. Den Filmtyp gibt es nicht mehr, das Entwicklungsverfahren auch nicht. Keine Ahnung, ob das Material aktuelle Substanzen verträgt und wie lang es ihnen ausgesetzt werden muss, damit eventuell enthaltene Bilder sichtbar werden. In den USA und in England soll es noch zwei Labors geben, die solche Uralt-Farbfilme entwickeln können. Die Kosten dafür sind immens, zu hoch für die vage Möglichkeit eines sichtbaren Ergebnisses. 

Na ja, im Prinzip soll man Filme ja sogar in Kaffee und in Paracetamol entwickeln können und Farbnegativfilme in Schwarzweißchemie, und ich brauche jetzt keine Bildqualität wie bei metergroßen Vergrößerungen. Also Rodinal, der Alleskönner von 1891, ein Produkt, das so zeitlos gut ist, dass es seit fast 130 Jahren nahezu unverändert produziert wird. Schön, dass es sowas noch gibt. Wenngleich auch nicht mehr bei AGFA. Mittlerweile kommt die historische Brühe von ADOX und heißt mal Rodinal und mal Adonal, weil die ursprüngliche Bezeichnung in manchen Ländern immer noch markenrechtlich geschützt ist. Interessanterweise ist der Schutz des Namens effektiver als der Schutz der ursprünglich streng geheimen Rezeptur. Die war nämlich von den Amis nach 1945 eingesackt und zuhause bei KODAK herumgetratscht worden.

10 Minuten Rodinal erweckt Tote zum Leben

Vielleicht etwas zu makaber für einen Werbeslogan, aber in diesem Fall stimmt es irgendwie. 10 Minuten Kippentwicklung in 1:50, danach Stoppbad, Fixierung und Netzmittelbad wie bei einem 08/15-Schwarzweißfilm. Gespannt ziehe ich den Film aus der Entwicklungsdose: Da ist tatsächlich etwas drauf, der Film lebt!

Der alte AGFA-Film ist sehr dicht, allein schon durch das orangefarbene Trägermaterial, das Farbnegativfilme nun mal haben. Durch die Rodinal-Entwicklung ist er zum Schwarzweißfilm mutiert. Die eine Hälfte des Films ist völlig schwarz, sie hat irgendwann mal zu viel Licht abbekommen. Auf der anderen Hälfte jedoch ist klar und deutlich ein Einzelbild mit drei sitzenden Personen zu erkennen und zwei oder drei andere, stark unterbelichtete Aufnahmen, die Blumen und einen steinigen Gebirgsbach zeigen.

Bildinterpretation als Detektivarbeit

Ein Mann und zwei Frauen, Alter vielleicht so Ende 60, sitzen nebeneinander auf einer langen Bank mit einer Bruchsteinwand im Hintergrund, an der sich Gegenstände wie eine Leiter und eine Art alter Metallleitung befinden. Rechts ragt eine Säule aus Granitblöcken in das Bild hinein, die oben wohl eine Überdachung hält. Insbesondere die Frauen sind wie für einen sommerlichen Ausflug gekleidet, haben aber auch Jacken dabei, die auf der Bank rechts zusammen mit einer Zeitung abgelegt sind. Obwohl die Sonne schon tief steht, scheint es noch warm zu sein. Auf dem Boden stehen zwei Handtaschen. Wer mögen die Leute gewesen sein? Eventuell handelt es sich um zwei befreundete Ehepaare und der Begleiter der Frau rechts hat das Bild gemacht. Die Kleidung der Frauen lässt vermuten, dass das Foto in den 1970er Jahren aufgenommen wurde. Die des Mannes könnte sogar noch älter sein. Der verwendete Filmtyp unterstützt die Datierung. Der CNS2 Rollfilm von AGFA wurde in der Zeit von 1976-1982 produziert (Quelle:https://www.photomemorabilia.co.uk). 

Trotz des großen Negativs von 6x9 cm ist das Bild mangels Schärfe kaum vergrößerungsfähig, so dass ich üppig digital nachgeschärft habe. Die Säule rechts ist zudem kissenförmig verzeichnet, was ein Ergebnis des einfachen Kameraobjektivs ist. Interessant: Wer fotografierte in den späten 70ern noch mit einer Box aus den 50ern und packte da einen modernen Farbfilm rein? Na ja, heute macht man das aus Sentimentalitätsgründen wieder, aber damals, zu einer Zeit, als Kleinbild-, Kompakt- und Spiegelreflexkameras boomten und das Fotografieren in noch nicht dagewesener Weise für breite Käuferschichten vereinfachten? Vielleicht ein älterer Herr, der nur bei besonderen Anlässen zur Kamera griff und der damals modernen Technik nichts abgewinnen konnte? 

Bildrecherche. Ein 40 Jahre altes Personenfoto von einem vergessenen AGFA CNS2 Film in einer Boxkamera vom Flohmarkt.

Oben: Das am besten erhaltene Foto auf dem Film. Bruchsteinwände wie diese findet man zum Beispiel sehr häufig in der Eifel. Handelt es sich hier um das Bild eines Sommerausflugs in die Eifel?

Eine 40 Jahre alte Landschaftsaufnahme von einem vergessenen AGFA CNS2 Film in einer Boxkamera vom Flohmarkt.

Oben und unten: Die beiden stark unterbelichteten Fotos eines Gebirgsbachs befinden sich unmittelbar hinter dem Personenfoto auf dem Film. Natürlich kann man nicht wissen, ob sie am gleichen Tag oder irgendwann später geschossen wurden. Passen würde das aber schon: Wenn das Personenfoto am späten Nachmittag bei schon tief stehender Sonne aufgenommen wurde, was angesichts der langen Schatten wahrscheinlich ist, war es zum Zeitpunkt der beiden Landschaftsfotos mittlerweile noch dunkler. So dunkel, dass die begrenzten Belichtungseinstellungen der Boxkamera zu Unterbelichtung führten. Auch motivlich gibt es Übereinstimmungen: Derartige Gebirgsbäche mit offenbar vulkanischen Gesteinsbrocken gibt es ebenfalls in der Eifel. Man denke zum Beispiel an den Oberlauf der Rur bei Monschau.

Ein 40 Jahre altes Foto eines Gebirgsbachs von einem vergessenen AGFA CNS2 Film in einer Boxkamera vom Flohmarkt.

Falls jemand die Personen, die vor rund 40 Jahren, vielleicht bei einem Sommerausflug in die Eifel, auf dieser Bank sitzend fotografiert wurden, als seine Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern identifizieren und mir diesen Bezug auch nachweisen kann, möge er sich bitte über das Kontaktformular bei mir melden. Ich schenke ihm/ihr dann Vergrößerungen der Fotos mitsamt der Kamera, in der ich den Film gefunden habe, als Andenken.

Copyright 2018 by Klaus Schörner / www.bonnescape.de

Fotos: unbekannte/r Fotograf/in, Ende 1970er Jahre


Beiträge mit ähnlichen Themen:



Kommentar schreiben

Kommentare: 6
  • #1

    filmograph (Mittwoch, 28 Oktober 2020 10:07)

    Tolle Geschichte! Hat sich schon jemand gemeldet? Machst du dann einen Nachtrag?
    LG

  • #2

    Klaus (admin) (Mittwoch, 28 Oktober 2020 13:03)

    Vielen Dank!
    Nein, bisher hat sich niemand gemeldet, der die abgebildeten Personen kannte. Obwohl dieser Artikel oft aufgerufen wird, wäre das wohl auch ein unerhörter Zufall. Sollte es passieren, werde ich selbstverständlich darüber berichten :-)

  • #3

    MiMiranda (Mittwoch, 14 Juli 2021 10:27)

    Thanks für den Tipp mit Rodinal samt Entwicklungszeiten. Habe auch noch 2 oder 3 alte Farbfilme, die keiner mehr entwickeln kann. Wollte sie schon wegschmeißen. Ich probier das mal mit Rodinal. Hab auch noch ein paar Kodachromes. Geht das damit auch?
    Gruß, Micha

  • #4

    Klaus (admin) (Donnerstag, 15 Juli 2021 01:15)

    "Hab auch noch ein paar Kodachromes. Geht das damit auch?"
    Hab ich noch nicht ausprobiert, ich habe allerdings auch keine mehr.

  • #5

    H. Dreesen (Dienstag, 28 Februar 2023 11:22)

    Ein spannendes Thema sympathisch geschrieben. Wahrscheinlich nur eine klitzekleine Chance, dass die Geschichte ein happy end findet und sich da jemand meldet, der die Personen kannte.

  • #6

    Fabian S. (Samstag, 23 Dezember 2023 14:54)

    Immer wieder nett zu lesen, solche Erzählungen. Derartige Geheimnisse hält die Digitalfotografie für uns nicht mehr bereit.
    Ein schönes Weihnachtswochenende wünscht
    Fabian